Beitrag von Agra-Europe
Veröffentlicht am 02.03.2022
Ein persönlicher Beitrag von Dr. Gibfried Schenk, ehrenamtlicher Geschäftsführer des Vereins FriedensBrot und ehemaliger Geschäftsführer der Fördergemeinschaft Nachhaltige Landwirtschaft (FNL), der Vorgängerorganisation des Forums moderne Landwirtschaft (FML)
Natürlich könnte ich als Agrarwissenschaftler, der elf Jahre seines Lebens in Kiew wohnte, etwas über die ukrainische Landwirtschaft schreiben. Besonders auch, wenn Kollegen von AGRA-EUROPE fragen, die mein Berufsleben lange Jahre mitbegleitet haben. Ich könnte berichten, dass der ukrainische Teil vor dem ersten Weltkrieg bis zu 70 % des Zuckers des damaligen Russländischen Imperiums produzierte. Damit und mit der Entwicklung der ukrainischen Zuckerindustrie bis heute, beschäftige ich mich wissenschaftlich. Ich könnte aber auch schreiben, dass die Ukraine mit ihren 44 Millionen Menschen heute Weltmarktführer im Export von Sonnenblumenschrot, Sonnenblumensaat und Roggen ist. Ob das so bleibt, wird abhängen von den Ausmaßen kriegsbedingten Dieselmangels, der fehlenden Manpower, von Schäden in Betrieben und an allgemeiner Infrastruktur.
Als Historiker würde ich nicht an den schrecklichen Katastrophen vorbeikommen, satanisch herbeigeführt zuerst von Stalin und dann von Hitler, denen viele Millionen Menschen auf ukrainischem Gebiet zum Opfer gefallen sind. Doch dann könnte ich als Historiker auffächern, wie, mit welchem offenen, auch streitbaren Diskurs sich die Ukraine in den 30 Jahren ihrer Unabhängigkeit auf den Weg zu einem demokratischen Land gemacht hat. Zu einem Land, in dem nicht eingesperrt wird, wer sich an einer Demonstration beteiligt, und zu einem Land, dass seine Zukunft in der EU und der NATO als Staatsziele in seiner Verfassung verankerte.
Jetzt, wo die Ukraine seit dem 24. Februar sich und auch uns in einem schrecklichen Krieg verteidigt, bewegen mich und meine Familie Nachrichten von uns eng verbundenen Menschen. Wir kennen sie als Kinder guter, inzwischen verstorbener, Freunde aus Studienzeiten. Schon lange sind sie unsere Kinder.
Hier einige Nachrichten:
N. (42 J.), Mutter zweier Mädchen von 15 und elf Jahren, in einem Gartenhaus am Rande Kiews:
27. Februar 2022, 10:05 Uhr: „Wir hatten keinen Strom. Da wir nicht wissen, was kommt, laden wir jetzt schnell alles auf. Insgesamt ist das eine Katastrophe, die man nicht in Worten wiedergeben kann. Die Kinder weinen. Wir wissen nicht, was weiter. Ausgangssperre in Kiew schon seit gestern und bis morgen. Alles furchtbar. Beten wir, dass wir überleben.“
27. Februar 2022, 19:35 Uhr: „…wenn die Sonne untergeht, sitzen wir im Bad - können nicht schlafen. Fürchterlich. Mal haben wir Strom, mal nicht. Und im Gebiet dürfen wir nach Sonnenuntergang kein Licht anmachen. Damit man von oben nicht gesehen wird, schaltet man das Licht und Taschenlampen aus...“
T. (40 J.), Mutter einer 13-jährigen Tochter und eines 5-jährigen Sohnes, aus einem Hochhaus in Kiew:
27. Februar 2022, 10:01 Uhr: „Hallo! Wir sind noch am Leben und gesund. Die halbe Nacht haben wir im Keller gesessen, die Sirenen warnten vor einem Luftangriff. Wir sind jetzt in der Wohnung, ich bereite schnell Essen zu und lade die Telefone auf.“
28. Februar 2022, 09:04 Uhr: „Einige Geschäfte sind wieder auf, jetzt gehen wir zum „N…. ; wir sind in der Schlange an 85. Stelle.“
28. Februar 2022, 10:46 Uhr: „…wir werden je nach Situation sehen. Wenn wir nicht hierbleiben können, werden wir versuchen, die Ukraine zu verlassen. Dann werden wir Euch kontaktieren.“
01.03.2022, 10:35 Uhr: „Bei uns bis jetzt alles normal, nur Schüsse und ein Brummen in der Ferne. Zu uns kommen die Truppen wahrscheinlich später.“
Hoffnung macht mir die letzte Nachricht und die Sondersitzung des Deutschen Bundestages am vergangenen Sonntag. Waffenlieferung an die ukrainischen Verteidiger, Sanktionen für den Aggressor, Ende mit dem „Russische Seele-Kitsch“ (Karl Schlögel), Wiederherstellung unserer eigenen Verteidigungsfähigkeit. Eine Zeitenwende für die Bundesrepublik Deutschland. Alles an einem Tag. Hoffentlich nicht zu spät!