In der Klimaforschung spricht man von Kipppunkten. Das bezeichnet Punkte, die man bei augenscheinlich geringen, aber kontinuierlichen Veränderungen im Klimasystem erreicht und bei denen plötzlich erheblich größere, dauerhafte und nicht umkehrbare Veränderungen eintreten und Dinge sprunghaft aus dem Gleichgewicht geraten, zum Beispiel das Abbrechen des Golfstroms, das Auftauen von Permafrostböden und Eisschilden oder Vergleichbares. Hier soll aber nicht von Klimamodellen die Rede sein, sondern von Kipppunkten in der Landwirtschaft und in der politischen und kommunikativen Landschaft drumherum.
Mit Ansage gescheitert
Zunächst steht die landwirtschaftliche Tierhaltung vor einem solchen Kipppunkt. Die kontinuierliche und ungebremste Aufrüstung von Auflagen und gesetzlichen Anforderungen, das systematische Erschweren von Investitionen und die momentane wirtschaftliche Lage haben das Zeug, den Ausstieg von bäuerlichen Betrieben in eine noch nicht dagewesene Größenordnung zu bringen. Unsere Branche ist es ja gewohnt, dass die parteiübergreifende Sonntagsrede vom regional verwurzelten bäuerlichen Familienbetrieb beinahe wöchentlich von der real stattfindenden Politik zur Farce gemacht wird. Das jüngste Beispiel kommt unspektakulär daher, ist aber ein neuer Höhepunkt politischer Unaufrichtigkeit: Die Bundesregierung hat das Thema Bauen für mehr Tierwohl abmoderiert, das Gesetz zur Verbesserung des Tierwohls in Tierhaltungsanlagen kommt wegen Verzögerungstaktik und Profilierungsnöten eines Koalitionspartners nicht in ein Paket mit dem Baulandmobilisierungsgesetz. Praktische Konsequenz: Kaum sind die politischen Unterstützungsadressen für das von der Borchert-Kommission entwickelte Zukunftskonzept abgeliefert, ist es schon im Ansatz und mit Ansage gescheitert. Die Blockade bei der Weiterentwicklung bleibt, die Tierhalter stecken in der Klemme und die bekannten Urheber der Blockade zelebrieren weiter ihre Scheinheiligkeit. Wetten, dass es beim Insektenschutzprogramm oder bei der TA Luft ähnlich laufen könnte?
Agrarpolitik goes Bauer sucht Frau
Es gibt aber auch einen Kipppunkt in der öffentlichen Wahrnehmung der Landwirte, den man bei den Berliner Demonstrationen einiger Gruppen in der letzten Januarwoche besichtigen konnte. Schwarze Flaggen und Embleme mit mehr als zweifelhaftem Hintergrund, und das am Vorabend des Holocaust-Gedenktages – geschichtsvergessener und dämlicher geht es nicht. Wer so aufläuft und sich hinter persönlichen Interpretationen von Fahnenmotiven versteckt, hat - vorsichtig ausgedrückt - ganz viel nicht begriffen. Solche Splittergruppen diskreditieren die gesamte Landwirtschaft, zumal die vorgebrachten Forderungen auch nicht gerade durchdacht sind. Wer sich dann noch beim Demonstrieren für heimische Lebensmittel unter der Fahne mit Bananen in der Hand ablichten lässt, liefert noch ein kleines top-up: Agrarpolitik goes Bauer sucht Frau – oder sind wir schon im Dschungelcamp? Unabhängig von diesem Vorfall bleibt eine Erkenntnis: Die vielen kleinen und weniger kleinen und zum Teil rivalisierenden Gruppen, die Proteste und Aktionen für sich reklamieren, machen die Landwirtschaft zur leichten Beute für die Verhandler der anderen Seite, abzulesen am Gang der Gespräche mit Vertretern des Lebensmittelhandels. Ein wenig Ablenkfütterung für die Demonstranten von einem großen Einzelhändler, und schon ist die Stimmung freundlich und man wähnt sich in der Partnerschaft auf Augenhöhe. Dass im Markt weiter Fakten geschaffen werden, der Preisdruck weitergeht, der Handel angemessene Vergütung höherer Tierwohlstandards (aktuell bei Milch) verweigert und verschiedene Systeme gegeneinander in Stellung bringt, geht dabei völlig unter. So geht das nicht, es braucht ein komplett anderes Format der Gespräche, wenn die landwirtschaftliche Seite sich nicht ins Abseits moderieren lassen will.
Digitaler Erfolg
Aber es gibt auch positive Kipppunkte. Dazu zählen die vielen digitalen Informations- und Austausch-Formate, in denen wir und alle bewegen, zuerst notgedrungen wegen Corona und dann immer routinierter. Vieles davon wird bleiben, weil es effizienter und einfacher zu organisieren ist. Wir alle vermissen natürlich die analoge Grüne Woche, aber trotzdem zieht der DBV für die digitale Ausgabe der IGW ein positives Fazit. Der agrarpolitische Jahresauftakt mit den Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen und Parteien hat sozusagen unter dem Dach des DBV den Wahlkampf eröffnet. Auch die digitalen Versionen unserer Fachforen zur GAP, zum Insektenschutz, zum Milchmarkt, zum Tierwohl, zu Wald und Wild und zu vielen weiteren aktuellen Themen hatten eine hohe und vor allem im Vergleich zu den Präsenzformaten deutlich höhere Reichweite. Nachhören ist möglich und empfohlen, wir werden diese Formate weiter nutzen und ausbauen, nicht zuletzt auch für Information und Austausch im Kreis der Mitgliederbasis.
Kooperationsprinzip ausgehöhlt
Insektenschutz ist der nächste kritische Kipppunkt auf unserer Tagesordnung. Die Vorgeschichte ist bekannt, jetzt geht es in die heiße Phase. Die Bundesregierung hat allen Diskussionen der zurückliegenden Monate zum Trotz nur wenig an ihrem Aktionsprogramm aus dem vergangenen Jahr geändert. Pauschale Unterschutzstellungen mit Enteignungscharakter zerstören Fördermöglichkeiten, eine nach wie vor große Flächenkulisse wird mit auch naturschutzfachlich unsinnigen Verboten belegt und das Kooperationsprinzip wird ausgehöhlt. Auch hier geht die politische Trophäe vor, dem Insektenschutz ist nicht wirksam geholfen und der Landwirtschaft schadet es massiv. Praktische und erfolgreich zwischen Landwirtschaft und Naturschutz ausverhandelte Lösungen wie der niedersächsische und der baden-württembergische Weg werden konterkariert. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Bundesregierung das Ganze nicht wegen des Insektenschutzes, sondern aus Prinzip durchexerziert, weil man ein zwar fehlerhaftes und im Grundsatz verkorkstes, aber einmal beschlossenes Programm nicht korrigieren will. Hier muss der Gesetzgeber ran: Bundestag und Bundesrat müssen es ausbügeln und zwar im Interesse eines guten und kooperativen Insektenschutzes.